Warum wir einen Purpose haben

Warum wir einen Purpose haben

Wissen, wofür man antritt: Das ist bei Wildling ein Thema von wachsender Bedeutung. Stand anfangs vor allem das Produkt im Vordergrund, sprechen wir heute von Purpose: Wir stellen uns die Sinnfrage. Das klingt vielleicht abgehoben, war bei uns aber ein wichtiger Prozess der Selbstfindung. Hier erklärt Anna, wie und warum Wildling den inneren Kompass geschärft hat.

Wir sind Teil der RE:GENERATION.

Die Natur lebt vom Sonnenlicht
sie lebt von Fülle, nicht Knappheit,
sie passt die Form der Funktion an,
sie fördert Zusammenarbeit,
sie beruht auf Vielfalt,
sie kennt keinen Abfall
und nutzt die Kraft der Endlichkeit.

(inspiriert von Janine M. Benyus, Biomimicry)

Wer ein Problem lösen will, sollte in die Natur schauen. Um einen Schuh zu entwickeln, der einen möglichst natürlichen Bewegungsablauf zulässt, findet man dort viele Antworten. Wie läuft ein Mensch eigentlich, wenn Schuhe die Bewegung nicht einschränken? Welche natürlichen Formen helfen, eine Sohle ergonomisch und funktional zu gestalten? Eine Blatt- oder Wellenform? Ein Rillenprofil, wie von einer vergrößerten Fuchspfote? Welche Materialien schaffen ein gutes, natürliches Klima für den Fuß? Warm im Winter und kühl im Sommer?


Ein gesundes Ökosystem als Vorbild

Die Prinzipien der Natur helfen nicht nur beim Produktdesign: Auch das gesamte Unternehmen lässt sich nach ihnen ausrichten. Dieses Credo vertritt Janine Benyus mit voller Überzeugung – und ich finde: Die amerikanische Naturwissenschaftsautorin trifft genau den Kern dessen, womit wir uns in Zukunft alle beschäftigen sollten. Wie müssen Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren, wenn unser Vorbild ein gesundes Ökosystem ist? Die Prinzipien, die Benyus in ihrem 1997 erschienenen Buch Biomimicry vorstellt, haben sich für uns als wichtige Richtschnur erwiesen. Sie sind – in leicht abgewandelter Form – die Inspiration, ja: im Grunde unser Glaubensbekenntnis und Antrieb.

Man könnte fragen: Warum brauchen wir klangvolle Worte von Sonnenlicht und Endlichkeit, um als Unternehmen zu funktionieren? Die klassische BWL macht es einem doch leicht: Gewinnmaximierung, Neukundengewinnung, Marktanteilssteigerung. An solchen Größen misst sich üblicherweise der betriebliche Sollzustand.

Für uns war allerdings schnell klar, dass klassische Betriebszahlen nicht unseren Antrieb spiegeln. Natürlich brauchen wir Umsatz und Gewinn, um Gehälter zu zahlen und finanziellen Freiraum für Innovation zu haben. Doch erst Werte, Vision und die Sinnfrage schaffen intrinsische Motivation. Sie sind für Wildling von grundlegender Bedeutung. Kurzgefasst: Ohne Purpose könnten wir den Betrieb auch einstellen.


Mehr als ein gutes Produkt

Diese Klarheit und vielleicht auch Radikalität kam erst mit der Zeit. Natürlich waren Werte wie Nachhaltigkeit und Fairness von Beginn an mitgedacht, aber es ging doch zunächst vor allem ums Produkt: Wir wollten Schuhe schaffen, die helfen sollen, Freude an natürlichen Bewegungsabläufen zu behalten, unsere Körper zu regenerieren und uns mit unserer Umwelt zu verbinden. Daran hat sich nichts geändert. Wir wollen den Boden spüren, der uns trägt.

Aber genau aus dieser Verbindung entstand eine neue Feinfühligkeit und achtsamere Betrachtung dessen was uns umgibt. Und mit zunehmender Unternehmensgröße ein wachsendes Gefühl von Verantwortung für das, was gemeinsam geschaffen wurde und die Auswirkungen unserer Tätigkeit. Immer dringender hatten wir das Gefühl, es müsse um mehr gehen, als ein gutes Produkt zu kreieren. Ein definierter Purpose ist die Antwort auf die Fragen: Warum machen wir das überhaupt? Und wo soll das erwirtschaftete Geld hinfließen? Das herauszufinden und niederzuschreiben, bedurfte konzentrierter Arbeit – Teamarbeit. Es wurde viel diskutiert und überarbeitet, intern präsentiert und justiert. Denn ein Purpose gehört dem Team. Alle sollen sich damit wohl fühlen, identifizieren und es als inneren Kompass empfinden, der hilft, durch die Entscheidungen des Alltags zu navigieren. Eben mit Sinn zu arbeiten.


Wenn alles wichtig ist

Unsere erste Vision haben wir 2018 aufgeschrieben: „From Move to Movement“ hieß es da. Fast ein Slogan, richtungsoffen, aber in seiner Aufbruchstimmung passend, fanden wir. Uns war klar: Wir wollen diese Kraft der Community bündeln, um Dinge in Bewegung zu bringen. Aber eines war uns nicht klar: Was überhaupt bewegen? Wo genau könnte Wildling denn für eine gesellschaftliche Transformation den Unterschied machen, welche Dinge wollen wir angehen? Alles fühlte sich sehr wichtig an. Der Klimawandel, Kreislaufwirtschaft, die soziale Ungleichheit, sehr schnell kamen Themen hinzu wie Diversität im Team, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Art und Weise der Zusammenarbeit in einem Remote-Work-Setting.

Ratlosigkeit kam auf. Worum kümmern wir uns als Wildling zuerst? Was ist unser selbst erteiltes Mandat? Bei anderen Unternehmen und Initiativen schien dieser Punkt super eindeutig: Bei Ecosia geht es um Bäume. Bei Viva con Agua geht es um sauberes Trinkwasser. In einer solchen Klarheit steckt viel Kraft und Fokus, die Energie lässt sich leichter bündeln. Wir empfanden es bald als Manko, dass wir gar nicht genau sagen konnten, worum es uns neben dem Produkt ging. Alles schien wichtig.

Dann hat sich immer mehr herauskristallisiert, dass unser Problem einer vermeintlich nötigen Priorisierung bereits die Lösung in sich trug. Ein Gefühl verdichtete sich: Ja, wir wollen tatsächlich alles in Angriff nehmen. Genau solch ein breiter Ansatz erscheint richtig, eben weil die Dinge so komplex und verquickt sind. Man kann Klimawandel nicht betrachten, ohne die sozialen Bedingungen, also Klimagerechtigkeit, mitzudenken. Alles ist miteinander verwoben, also muss Veränderung von vielen Perspektiven aus das ganze System betreffen. Das war ein Aha-Erlebnis: Wenn wir als Unternehmen konsequent im Kreislauf denken und regenerativ handeln möchten, dann wird das zwangsläufig alle Themen umfassen, die uns schon immer wichtig waren. Das Bekenntnis dazu, das Wissen, dass man nichts davon im Alleingang schaffen kann und der Wunsch zu einer solchen Bewegung zu gehören und sie mitzugestalten drückt sich in unserem Purpose aus: Wir sind Teil der RE:GENERATION.



Foto: Wildling Shoes/Sarah Pabst


Ein einziger in Stein gemeißelter Satz hat Vor- und Nachteile. Es kann sehr schnell pathetisch klingen. Wenn ich sowas lese wie „We aspire to Greatness“, dann denke ich: „Naja, ok, alles klar.“ Wir haben uns entschieden, unseren knappen Purpose (Wofür ist Wildling da?) zu ergänzen – um konkrete Handlungsansätze (Wie gehen wir vor?). Und da durfte es ruhig ausführlicher werden. Denn nur so lässt sich das Wollen, unser Streben nach Veränderung im Team operativ übersetzen. So haben wir beides: Verdichtung und Impuls. Ein Auszug aus unserem Purpose-Text:

Wir wollen nicht nur Schaden minimieren sondern bei jedem Schritt, den wir tun, eine positive Wirkung erzielen:

indem wir erneuerbare Energien einsetzen
indem wir Rohstoffe aus regenerativen landwirtschaftlichen Systemen nutzen
indem wir in die Renaturierung von Ökosystemen investieren
indem wir auf radikale Zusammenarbeit setzen und faire Partnerschaften gestalten
indem wir Komplexität anerkennen und Vielfalt zelebrieren
indem wir unsere Produkte und Materialien reparieren und recyceln
indem wir die Grenzen von übermäßigem Wachstum begreifen

Wir wollen neue Wege finden, indem wir Brücken bauen, die auf Wertschätzung, Empathie und Solidarität fußen. Und zwar gemeinsam, denn die RE:GENERATION, das sind wir.


Utopien sind wichtig

Auch ein konkretes Ziel für die praktische Umsetzung in den nächsten fünf bis zehn Jahren haben wir in diesem Prozess erstmals explizit festgelegt. Es zeigt nach innen wie nach außen, wo wir den möglichen Wirkungsbeitrag von Wildling sehen. Helmut Schmidt sagte: „Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen.“ Das sehen wir anders. Wir jedenfalls haben die Vision einer experimentellen Utopie.

Experimentelle Utopie – was soll das nun? Schlicht gesagt: Wir wollen einen Raum schaffen, in dem wir neue Ideen in die Praxis umsetzen können, um zu sehen, wie sie wirken. All das mit dem dringenden Wunsch, die Wirtschaft nachhaltig zu verändern und lineares Denken in Kreisläufe zu überführen.

Ich glaube, es ist total wichtig, dass wir Utopien schaffen und uns und anderen im Labormaßstab beweisen, welche Formen der fairen und regenerativen Kollaboration möglich sind. Es geht unheimlich viel Kraft davon aus, in Bildern zu denken und durch eigenes Erleben vor Augen zu haben, wie es anders gehen könnte. Was hindert uns also, hier bei Wildling einen geschützten Raum zu schaffen, in dem wir neues Leben, Arbeiten und Wirken testen können.

Nach außen wollen wir Mut machen und Impulse setzen, Menschen mitnehmen. Wir wollen mit unseren Experimenten übertragbare Lösungen erbringen, Proof of Concept für kleine soziale und ökologische Innovationen. Wir wollen uns nicht auf einer Insel wähnen, sondern mit anderen außerhalb der Wildling Welt Gemeinsamkeiten und Schnittmengen abgleichen. Inspiration auch von außen zu bekommen, ist wichtig für uns.

Die Natur ist nicht linear, sie funktioniert in Kreisläufen. Klar ist: Wir können keinen in sich geschlossenen Wildling Kreislauf aufbauen. Wir wollen ein vielfältiges, komplexes und resilientes Ökosystem in feiner Balance mit anderen zusammen schaffen, sonst geht es nicht. Wir verstehen Wildling als Pilotprojekt für eine regenerative Unternehmensführung. Wir setzen auf Zusammenarbeit, um alte Systeme aufzubrechen und neu zu gestalten. In diesem Sinne – oder Purpose: Fühlt euch eingeladen!

 

Titelfoto: Sarah Pabst